Serie: Die Abi-Lotterie? Interview mit unserer Bildungsministerin Vera Reiß

Jeder, der sich über das Thema Studium informiert hat, kennt den Begriff Numerus clausus. Mittlerweile gibt es viele, die den Wunsch haben, auf einer Hochschule zu studieren, statt eine Ausbildung zu machen. Aber die Zahl an Studienplätzen reicht nicht aus, weswegen oft nur die Bewerber mit dem besten Notendurchschnitt ausgewählt werden. Doch was sagt die Abiturnote überhaupt noch aus in einer Zeit, in der immer mehr das „Abi“ machen?

Unser Ausgangspunkt für unser Interview ist ein Spiegel-Artikel aus diesem Jahr (24/2015). Dieser zeigte deutlich: Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Wir wollten die Lage in Rheinland-Pfalz analysieren und interviewten dafür nicht nur unseren Schulleiter, Herrn Whittaker, die MSS-Leiterin Frau Clemens sowie – stellvertretend für das Lehrerkollegium – Herrn Reger, sondern konnten auch unsere Bildungsministerin Vera Reiß für ein schriftliches Interview gewinnen, mit der wir in diesem Teil unserer Abitur-Serie beginnen wollen:

Redaktion: Finden Sie die heutigen Abiturprüfungen anspruchsvoller als noch vor 10 Jahren?

Frau Reiß: Ich halte solche Vergleiche nicht für sachgerecht. Meist hört man ja eher die Aussage: Vor 10 Jahren war das Abitur viel anspruchsvoller. Aber ich denke, dass es vor 10 Jahren weder schwerer noch leichter, sondern anders war. Das hängt schon allein damit zusammen, dass sich das, was in den Fächern zu lernen ist, im Laufe der Zeit verändert.

Es war z.B. mal Inhalt des Mathematikunterrichts in der Mittelstufe, schriftlich Wurzel ziehen zu lernen. Heute ist niemand mehr der Überzeugung, dass Schülerinnen und Schüler das lernen müssen. Für solche Aufgaben nutzt man den Taschenrechner. Aber dafür sind heute andere Inhalte wichtig geworden, die vor 10 Jahren noch nicht so im Mittelpunkt standen, z.B. für ganz echte Problemstellungen aus dem Alltag oder aus Betrieben Lösungsmöglichkeiten entwickeln oder eigene Lösungen erklären und begründen. Auch in den Naturwissenschaften haben sich die Lerninhalte verändert, denn die Schülerinnen und Schüler sollen in der Schule ja möglichst auch etwas von dem erfahren, was ganz aktuell in der Wissenschaft erforscht wird.

Lernen hat sich aber auch dadurch verändert, dass die Lehrkräfte heute mehr als früher versuchen, Schülerinnen und Schüler zu mehr Selbstständigkeit im Lernen hinzuführen. Das ist zuerst mal anstrengend, aber wer das gelernt hat, ist sehr viel besser für die Anforderungen im Berufsleben gerüstet.

Redaktion: Im Vergleich zu 2007 bestehen nun beinahe doppelt so viele Schüler  das Abitur. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Frau Reiß: Wir haben sehr große Anstrengungen unternommen, um alle Kinder und Jugendlichen noch besser individuell zu fördern. Denn man kann ja nicht einfach sagen: Wer intelligent ist, macht Abitur und wer weniger intelligent ist, schafft das eben nicht. Wir wissen sehr genau, dass es sehr verschiedene Formen von Intelligenz und Begabung gibt, sehr verschiedene Lernwege, sehr unterschiedlich schnelle Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen. Wenn man diesen unterschiedlichen Voraussetzungen Rechnung trägt, kann man die Potenziale der Schülerinnen und Schüler besser erkennen und ausschöpfen. Ich will nur einige Beispiele nennen:

  • Es gibt Kinder, bei denen in der Grundschule sehr schnell klar ist, dass sie das Gymnasium besuchen werden, und dass sie dort auch Erfolg haben werden. Es gibt aber auch Kinder, die sich in einem anderen Rhythmus entwickeln und bei denen am Ende der 4. Klasse noch nicht so gut abzusehen ist, wo ihre Stärken liegen. Diese Kinder sind in integrativen Schularten wie Realschule plus oder IGS besser aufgehoben. Manche entwickeln sich dort so, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt den Weg zum Abitur einschlagen. Das ist an vielen Stellen möglich.
  • Ein anderes Beispiel: Es gibt Kinder, die sehr schnell lernen und wenn man sie bremst eher die Lust am Lernen verlieren. Es gibt andere Kinder, die sehr begabt sind, aber langsamer lernen, die ein schnelles Tempo aber überfordern würde. Deshalb ist es gut, dass wir Gymnasien haben, die in 9 Jahren zum Abitur führen – das sind 130 im Land – und solche, die in 8 Jahren zum Abitur führen – das sind deutlich weniger, nämlich 21.
  • Manche Jugendlichen sind sehr begabt und haben Spaß am abstrakten, wissenschaftlichen Arbeiten. Andere sind ebenso begabt, lernen aber lieber und besser, wenn sie die Lerninhalte mit konkreter Praxis verbinden können. Deshalb ist es gut, dass man das Abitur an allgemeinbildenden Schulen machen kann, aber auch an verschiedenen Formen der berufsbildenden Schulen und auch in Verbindung mit einer Berufsausbildung.

Ich könnte noch viele Beispiele nennen. Das Fazit: Wir haben in den letzten Jahren sehr viel dafür getan, die Möglichkeiten der individuellen Förderung und der individuellen Ausgestaltung der Schullaufbahn zu verbessern. Das hat ganz sicher dazu beigetragen, dass mehr Jugendliche als früher Abitur machen.

Redaktion: ,,Fast überall in Deutschland haben sich die Noten verbessert“ Können Sie dieser These zustimmen?

Frau Reiß: Nein, so pauschal kann ich da nicht zustimmen. Die einzigen Noten, die wir unter den Ländern vergleichen können, sind die Abiturnoten, die die Kultusministerkonferenz erhebt. Bei den Abiturnoten hat sich in Rheinland-Pfalz in den vergangenen 10 Jahren kaum etwas geändert. Es gibt bei den Durchschnittsnoten Schwankungen, die in der 2. Stelle nach dem Komma liegen, aber keinen klaren Trend, dass die Noten immer besser werden.

Und beim Vergleich der Länder muss man auch vorsichtig sein. Wenn in einem Land ein geringerer Prozentsatz eines Jahrgangs Abitur macht als in einem anderen Land, hat das ja möglicherweise auch Auswirkungen auf die Abiturnote.

Redaktion: Was sagt für Sie die Abiturnote aus?

Frau Reiß: Die Abiturnote ist zunächst einmal ganz formal ein wichtiges Kriterium, wenn man sich um einen Studien- oder Ausbildungsplatz bewirbt. In vielen Fächern gibt es einen Numerus clausus. Zwar zählt nicht nur die Abiturnote, denn die Hochschulen wenden auch noch eigene Kriterien an, aber die Abiturnote spielt schon eine wichtige Rolle.

Übrigens haben Wissenschaftler durch umfangreiche Untersuchungen herausgefunden, dass die Abiturnote der beste Prädiktor für den Studienerfolg ist, d.h. dass die Abiturnote am besten von allen Kriterien eine Vorhersage über den Studienerfolg erlaubt. Das hat sicher etwas damit zu tun, dass den Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zum Abitur eine breite Grundbildung vermittelt wird und die Spezialisierung nicht zu früh und nicht zu eng ist.

Die Abiturnote sagt auch etwas über die Fähigkeit und Bereitschaft, kontinuierlich zu arbeiten. Denn sie besteht ja nur zu einem Drittel aus den Ergebnissen der Abiturprüfung und zu zwei Dritteln aus den Ergebnissen der Kurse in der Qualifikationsphase. Das halte ich auch für sehr gut, denn wenn nur die Prüfung zählen würde, könnte sich ein „schlechter Tag“, den jeder einmal hat, sehr negativ auswirken.

Redaktion: Was halten Sie von einem deutschlandweit identischen Prüfungsteil im Abitur?

Frau Reiß: Das hängt davon ab, wie dieser konkret gestaltet wird. Wir werden ja im Zusammenhang mit der Umsetzung der Bildungsstandards für das Abitur in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch auch zentrale Elemente in der Abiturprüfung dieser Fächer einführen. Das Ziel ist, dass bundesweit mehr Vergleichbarkeit und mehr Transparenz erreicht werden soll. Deshalb hat die Kultusministerkonferenz beschlossen, dass für jedes der 4 Fächer ein zentraler Pool an Aufgaben entwickelt wird, die einheitliche Anforderungen stellen und den Bildungsstandards entsprechen. Aus diesem Pool können alle Länder ab 2017 Aufgaben in ihrer Abiturprüfung einsetzen. Wir werden das in Rheinland-Pfalz selbstverständlich tun, denn wir wissen, dass unser Abitur eine gute Qualität hat, und durch diese zentralen Poolaufgaben können wir das auch dokumentieren. Daneben werden aber weiter Aufgaben durch die Lehrkräfte erstellt und in bewährter Weise durch zentrale Expertenkommissionen begutachtet und ausgewählt. Das gewährleistet, dass nach wie vor trotz einheitlicher Anforderungen in den Schulen auch Schwerpunkte gesetzt werden können.

Ich finde diese Kombination sehr gut: ein zentraler Teil und ein dezentraler Teil mit zentraler Qualitätskontrolle.

Redaktion: Dennoch werden immer wieder Stimmen nach einem Zentralabitur – wie in allen anderen Bundesländern – laut: 

Frau Reiß: Ein generelles Zentralabitur halte ich nicht für notwendig, da ich nicht sehe, dass es uns in Rheinland-Pfalz eine Qualitätsverbesserung bringen würde.

Aber ihr sprecht einen wichtigen Punkt an. Da, wie gesagt, die Abiturprüfung nur ein Drittel und die eingebrachten Kursergebnisse zwei Drittel der Abiturnote ausmachen, dürfen wir nicht nur auf die Abiturprüfung schauen, wenn wir die Jugendlichen gut auf Studium und Beruf vorbereiten wollen. Die Qualität des Unterrichts und die Anforderungen in der Oberstufe spielen auch eine ganz wichtige Rolle. Deshalb machen wir ja auch viele Angebote, damit Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht weiterentwickeln können und neue Anregungen bekommen. Die Qualität des Unterrichts ist das A und O in der Schule!

Redaktion: Wie denken Sie über die sogenannte ,,Akademikerschwemme“?

Frau Reiß: Ich denke, dass da etwas aufgebauscht wird, was als Problem so gar nicht existiert. Die Anforderungen an die Berufe haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Heute ist für viel mehr Berufe als früher das Abitur oder sogar ein Studium erforderlich, weil die Anforderungen gestiegen sind. An allen Arbeitsplätzen werden möglichst gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigt. Eine sehr gute Lösung sind da z.B. die dualen Studiengänge, in denen man Studium und Berufsausbildung miteinander verbinden kann. Die Absolventinnen und Absolventen solcher Studiengänge sind in der Wirtschaft verständlicherweise sehr gefragt.

Redaktion: Laut Spiegel-Artikel liegt der Anteil der guten Abi-Noten in Rheinland-Pfalz unter dem Durchschnitt.

Frau Reiß: Ja, der Anteil der besonders guten Noten liegt in Rheinland-Pfalz etwas niedriger als in vielen anderen Ländern. Aber umgekehrt ist auch der Anteil derjenigen, die in der Abiturprüfung durchfallen, bei uns geringer. Das scheint auf den ersten Blick nicht zusammen zu passen. Ich denke aber, dass es schon passt. Zum einen bemühen wir uns, alle Schülerinnen und Schüler, die in die Oberstufe kommen, möglichst gut zu fördern, damit sie die Abiturprüfung bestehen können. Zum anderen „verschenken“ wir aber weder das Abitur noch gute Noten, d.h. in der Oberstufe werden auch hohe Anforderungen gestellt.

Wir hören immer wieder, dass rheinland-pfälzische Abiturientinnen und Abiturienten, wenn sie mit Studierenden aus anderen Ländern zusammenkommen, feststellen, dass sie gut auf das Studium vorbereitet sind.

Redaktion: Was können Sie einem Abiturienten, der einen Studienplatz sucht, ans Herz legen?

Frau Reiß: Zum ersten sollte man sich sehr gut überlegen, welches Studienfach man wählt. Es gibt viele neue interdisziplinäre Studiengänge, die zum Teil sehr interessant sind, weil sie verschiedene Fachanteile miteinander verbinden.

Natürlich sollte man auch überlegen, welche Berufschancen das gewählte Studium bietet. Wenn man weiß, welches Fach man in etwa studieren möchte, ist es sinnvoll, sich genau anzuschauen, welche Inhalte man in dem jeweiligen Studiengang abdecken würde. Ein Blick auf die Forschungsschwerpunkte der Professorinnen und Professoren und in das Modulhandbuch des Studiengangs verrät viel, über die Schwerpunkte die in diesem gesetzt werden. Ein Politikwissenschaftsstudium in Trier unterscheidet sich durchaus aus von dem in Mainz.

Und wenn es speziell um die Frage geht, wo man studieren möchte, sollte man nicht nur die ganz großen Hochschulen in vermeintlich interessanten Städten in Betracht ziehen. An kleinen Hochschulen in Städten, die auf den ersten Blick nicht so interessant erscheinen, sind oft die Betreuungsrelationen besser, der Zusammenhalt unter den Studierenden ist besser. Das hat auch seine Vorteile.

Wenn man dann schließlich einen Studienplatz gefunden hat: Nicht so leicht aufgeben! Vielleicht erscheint am Anfang manches sehr schwer! Aber durch Schwierigkeiten kann man sich auch durchbeißen. Und wenn Ihr in der Schule schon gelernt habt in Gruppen zusammenzuarbeiten, ist das für das Studium allemal von Vorteil.

Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

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