
Es ist ein nebliger Montagvormittag im November: Der Deutsch-Leistungskurs von Frau Radtke startet in die Doppelstunde zum Kafkas „Die Verwandlung“. Vorne im Klassenzimmer steht in Richtung Tafel blickend ein kleiner Avatar in strahlendem Weiß. Der AV1, entwickelt und vertrieben von der No Isolation GmbH, soll Emotionen ausdrücken und sich bewegen können. Doch wie leider allzuhäufig bleibt er stumm. Maria (Name von der Redaktion geändert), die den kleinen Roboter von zuhause aus steuern könnte, ist nach wie vor viel zu schwach, um mitzuarbeiten. Doch wie konnte es so weit kommen?
Pandemiealltag
Wir schreiben das Jahr 2021: Die Pandemie hat Deutschland voll im Griff und in den Schulen wird fleißig getestet. Maria ist zu diesem Zeitpunkt ein gesundes, aktives Mädchen. Doch genauso wie bei uns allen macht natürlich auch vor ihr Covid-19 nicht halt. Immer wieder plagen sie Infekte. „Das ist ganz normal in der Erkältungszeit“, beruhigt der Kinderarzt. Nichts, weshalb man beunruhigt sein sollte.
Im Februar 2022 erkrankt Maria an Covid-19. Nach einer weiteren Infektion im Juli treten erstmals starke gesundheitliche Probleme auf, die sich in ständiger Erschöpfung und grippeähnlichen Symptomen äußern. „Ich habe mich normal weiter belastet, was ein fataler Fehler war“, reflektiert sie heute.
Zusätzlich infiziert sie sich mit dem Epstein-Barr-Virus, dessen Diagnose erst verzögert erfolgt. Maria hat sich zweimal gegen Covid-19 impfen lassen und stets die Hygienemaßnahmen penibel eingehalten. Doch nichts davon kann verhindern, dass ihr Alltag von Woche zu Woche schwieriger wird. Nach ihrer dritten Corona-Infektion im März 2023 verschlechtert sich ihr Zustand dramatisch. Die Fehlzeiten in der Schule steigen von Stunden über Tagen bis hin zu Wochen. Seit Oktober 2023 ist eine Teilnahme am Unterricht nicht mehr möglich. Stattdessen erfolgt die Beschulung mit maximal einer Stunde Unterricht pro Woche seit Februar 2024 über die Schule für Kranke der Uniklinik Mannheim.
Beginn einer Odyssee
Die Folgen der Erkrankung sind für Maria massiv: Neben einer absoluten Erschöpfung, Muskel- und Gelenkschmerzen kommt noch der Brain Fog hinzu; Konzentrations- und Wortfindungsstörungen machen einen normalen strukturierten Alltag nahezu unmöglich für sie. „Treppensteigen oder sich bewegen sind für mich kaum möglich, und ich benötige oft Unterstützung“, fügt sie hinzu.
Die Suche nach einer Diagnose gestaltet sich schwierig. „Die Ärzte erklärten meine Symptome häufig mit den Virusinfekten, dem Wachstum, der Pubertät oder dem Stress in der Schule“, berichtet Maria. Erst nach mehreren Arztbesuchen, umfangreichen eigenen Recherchen und einer erweiterten Blutuntersuchung bei einem Vertretungsarzt erhält sie die Verdachtsdiagnose: Post Covid. Im Juli 2023, ein Jahr nach Beginn der Erkrankung, stellt die Long Covid Ambulanz Koblenz die Diagnose Post Covid und ME/CFS.
Eine Blitzumfrage in der der Neustadter Innenstadt am 22. November unter 66 Erwachsenen zeigt: Nur wenige wissen, was es damit auf sich hat.

ME/CFS – eine Erkrankung so tückisch wie unaussprechbar – ist vielen nahezu unbekannt ist. Die Blitzumfrage zeigt: Während 89,4% der Befragten den Begriff Long Covid kennen, können nur 25,8% etwas mit ME/CFS anfangen.
ME/CFS versus Long Covid – ein Überblick
Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere chronische Multisystemerkrankung und aufgrund der Begriffsbestandteile erst einmal erklärungsbedürftig:
Der erste Wortbestandteil, die Myalgie, beschreibt einen örtlich begrenzten oder diffusen Schmerz, der von den Muskeln ausgeht. Unter Enzephalomyelitis versteht man eine Entzündung des Gehirns (Enzephalitis) und Rückenmarks (Myelitis). „Fatigue“ wiederum kommt aus dem Französischen und bedeutet Müdigkeit, die sich körperlich, aber auch geistig zeigen kann. Wenn ein solcher Zustand dauerhaft anhält, spricht man von einer chronischen Erkrankung.
Bestehen solche Beschwerden länger als vier Wochen und wurden sie durch eine Coronainfektion ausgelöst, spricht man von Long Covid. Halten sie länger als drei Monate an, spricht man von Post Covid. Deren schwerste Form ist ME/CFS, was aber auch durch anderen virale Infektionserkrankungen ausgelöst werden kann.

In Deutschland litten schon vor der Pandemie 250.000 Menschen darunter, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Weltweit sind es sogar etwa 17 Millionen Betroffene. Doch die Versorgungslage ist katastrophal: Es gibt kaum Fachärzte, die meisten Mediziner kennen sich nicht mit der Erkrankung aus. Oftmals werden Betroffene stigmatisiert oder gar falsch behandelt, was ihre Situation verschlimmern kann. Besonders Kinder und Jugendliche werden häufig nicht ernst genommen. Dann ist der desolate Gesundheitszustand angeblich auf den Schulstress oder die Psyche zurückzuführen. Die Kids sollen sich nicht so anstellen und einfach mehr an die frische Luft.
„Ein Arzt aus Neustadt hat mir im März 2024 prognostiziert, dass es mir bis Ende Sommer 2024 wieder gut gehen würde, ich müsse mich einfach nur an der Genesung ‚beteiligen‘. Seither sind 9 Monate vergangen, eine Besserung oder Genesung ist nicht eingetreten, obwohl ich alles in meiner Möglichkeit liegende dafür getan habe.“
Eine Umfrage bei Neustadter Kinderärzten zeigt, wie undurchsichtig die Situation ist. Eine Praxis berichtet uns, dass vor allem in den Jahren 2020-2023 viele Kinder teilweise monatelang Husten gehabt hätten, doch eine antientzündliche Therapie habe dies kurieren können. Eine andere Praxis schreibt uns, dass in den Jahren 2023/2024 „immer mal wieder 1-2 Fälle mit Verdacht auf Long-Covid [vorstellig geworden wären], wobei es in diesen Fällen nach 12 Wochen immer wieder in Ordnung war.“ Diese Praxis nennt gesichert fünf Fälle von ME/CFS.
Ein zentrales Merkmal der Erkrankung, die durch Infektionen ausgelöst wird, ist die sogenannte „Postexertionelle Malaise“ (PEM) – eine Zustandsverschlechterung nach geringster körperlicher oder geistiger Belastung.
Der Alltag
Maria und ihre Familie haben sich daher auf das sogenannte „Pacing“ eingestellt – ein Konzept, das hilft, die Energiereserven besser zu verwalten, um einen Crash (Zustandsverschlechterung) möglichst zu verhindern. „Es ist wie die Energieverwaltung eines nur wenig geladenen Akkus, der bei mir nur noch eine ‚Kapazität‘ von 15-20% hat“, erklärt sie. Selbst einfachste Aktivitäten wie Zähneputzen oder Anziehen können ihre Erschöpfung verstärken.
Familienangehörige müssen oft bei täglichen Aufgaben helfen, die für andere selbstverständlich sind. „Wir müssen alles genau planen, um Belastungen zu minimieren“, so Marias Eltern. Trotz Unterstützung durch die Long-Covid-Ambulanz in Koblenz und eine verständnisvolle Hausärztin bleibt die medizinische Versorgung oft unzureichend. „Die meisten Therapien sind nicht für ME/CFS zugelassen und PEM-geeignet, und es gibt keine spezifischen Medikamente“, klagt Maria. Kosten für Off-Label-Medikamente, Hilfsmittel oder Nahrungsergänzungsmittel werden häufig nicht von Krankenkassen übernommen. Um ihr wenigstens die Möglichkeit der sozialen Teilhabe in der Schule zu geben, wurde am Käthe der AV-1 eingeführt. „Auch einige Lehrkräfte, die Schulleitung, die Sozialarbeiterin des KKG, unser Ansprechpartner der ADD und die Klinikschule Mannheim haben uns bisher unterstützt.“
Behandlungsmöglichkeiten
Derzeit gibt es weder Heilmittel noch gezielte Therapien für ME/CFS. Eine symptomorientierte Behandlung steht im Vordergrund, wobei die Ansätze stark variieren.

Mögliche, teils ungesicherte Ansätze sind:
- Pacing: Die Kontrolle der eigenen Aktivität, um Energieüberschreitungen zu vermeiden.
- Physiotherapie: Vorsichtig angepasst, um Verschlechterungen zu vermeiden.
- Medikamentöse Therapie: Off-Label-Ansätze wie diverse Entzündungshemmer können helfen.
- Nahrungsergänzungsmittel: Omega-3-Fettsäuren, Coenzym Q10 oder Vitamin D
Doch diese Behandlungen müssen meist selbst finanziert werden. Der GKV-Spitzenverband erklärt auf unsere Anfrage:
„In Bezug auf die Behandlung sind bisher keine gesicherten und spezifischen therapeutischen Interventionen bekannt. Eine vergleichbare klinische Symptomatik tritt auch bei Patientinnen und Patienten auf, die andere durch virale Erreger ausgelöste Infektionskrankheiten durchgemacht haben. Insofern ist das Krankheits- und Beschwerdebild nicht neu. Aufgrund der erheblichen Bandbreite der Symptomatik ist eine individuell auszugestaltende symptomorientierte Begleitung und Behandlung der Betroffenen die derzeit übliche und angemessene Herangehensweise. Für Patientinnen und Patienten mit Long-Covid existieren im Rahmen der GKV-Versorgung unterschiedlichste Behandlungsangebote, die entsprechend der Ausprägung der Symptome zum Einsatz kommen können. Die Behandlung erfolgt immer symptomorientiert, das heißt, auf die individuellen Beschwerdebilder hin ausgerichtet.“
Für die Betroffenen bedeutet das oft: jahrelange Frustration und eine hoffnungslose Warterei auf Forschungserfolge.
Keine guten Aussichten?
Für uns alle ist es selbstverständlich, einen Arztbesuch zu unternehmen, sobald es uns schlecht geht. Man erhält eine Diagnose und einige Medikamente, um so schnell wie möglich wieder fit zu werden. Doch im Falle von ME/CFS ist genau dieser Prozess nicht möglich, dazu nicht nur sehr nervenaufreibend, sondern vor allen Dingen ernüchternd und hoffnungszerschmetternd. Für die Betroffenen endet ihr normales Leben in nur kurzer Zeit und sie können auf wenig Unterstützung setzten, aufgrund von mangelnder medizinischen Forschung sowie einer Großzahl von Menschen und vor allem auch Ärztinnen und Ärzten, welche diese Krankheit als reines Schwächeln der Betroffenen oder als psychiche Krankheit sehen und ihnen einreden wollen, mehr Bewegung sei die Lösung.
Für einen kranken Menschen, der die meiste Zeit seines (noch jungen) Lebens an sein Bett gefesselt verbringen muss, gibt es nichts Schlimmeres, als das eigene Leiden kleingeredet zu bekommen.
Trotz der Herausforderungen, mit denen Maria jeden Tag konfrontiert ist, hegt sie Hoffnungen auf eine Genesung oder zumindest auf eine Verbesserung ihrer Lebensqualität. „Ich wünsche mir, dass ich wieder einen normalen Alltag haben kann, ohne ständig abwägen zu müssen, ob und welche kleinste Tätigkeiten überhaupt möglich sind, ohne dass diese zu einer Zustandsverschlechterung führen.“, sagt sie. Zudem fordert sie eine bessere Aufklärung über ME/CFS, sowohl in der Gesellschaft als auch im medizinischen und politischen Bereich.
„Ich würde mir außerdem wünschen, dass die Mitmenschen uns Erkrankte mehr in ihren Alltag und ihr Leben miteinbeziehen würden und von sich aus mehr auf uns zukommen, da uns Betroffenen dafür ja oftmals die Kraft fehlt. Denn für mich fühlt es sich oftmals an, als hätte jemand auf Stopp gedrückt und mein Leben pausiert, wohingegen das Leben der Menschen um mich herum jedoch weiter läuft.“
Zurück zum Avatar, dem „AV1“: Frau Radtke wird nicht müde, den kleinen Helfer im Raum aufzubauen; sie und der Kurs hoffen, dass Maria bald wieder am Unterrichtsgeschehen teilnehmen kann. Marias Familie wird nicht müde, alles für sie Mögliche zu unternehmen, sodass sie wieder ein normales Leben haben kann. Und auch wir hoffen, dass dieser Wunsch bald in Erfüllung gehen wird.
Weitere Informationen zu dem schwierigen Thema finden Interessierte wie Betroffene unter folgenden Links:
NichtGenesenKids e.V. (Zusammenschluss betroffener Familien)
Artikel der AOK über ME/CFS (06/2024)
Ruben Wagner (12. Jgs.), Amelia Schultes (12. Jgs.), Lina Falkner (9. Jgs.) und Henrik Westwood (9. Jgs.)