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Ursula von der Leyen und die EU – eine stimmige Partnerschaft?

Ist die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin Ausdruck eines Demokratiedefizits der Europäischen Union?

Bei der Europawahl im Mai beschwor man noch den europäischen Geist und erreichte sogar eine vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung. Ernüchternd wirkt es nun auf manche Wähler, dass ausgerechnet Ursula von der Leyen, ehemals deutsche Verteidigungsministerin, den Vorsitz der europäischen Kommission übernimmt und somit an der Spitze der Exekutive in der EU steht.
Vorwürfe, wie dass es sich um eine „endgültige Metamorphose zu einem Projekt der europäischen Elite“ handle, werden immer lauter. Und tatsächlich schwebt die Frage nach einer womöglich unzureichenden Legitimierung von der Leyens wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf in Brüssel.

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert ein Demokratiedefizit als „mangelnde Legitimation des politischen Systems der EU aufgrund zu geringer Partizipationsmöglichkeiten der Parlamente und Bürger“. Es lässt sich somit hinterfragen, inwieweit diese Möglichkeiten im Prozess der Wahl gegeben wurden. Dafür gilt es, die maßgeblichen Institutionen genauer zu untersuchen.
Als oberstes Entscheidungsgremium zählt der Europäische Rat, in welchem die Staats- und Regierungschefs vereint sind, welcher ähnlich wie die Regierung arbeitet und die Grundlinien der Politik bestimmt. Daneben existiert die Europäische Kommission, welche sich aus den 28 Kommissaren der Mitgliedsländer zusammensetzt. Die Kommissare – welche ähnlich wie Minister fungieren – werden von den jeweiligen Regierungen sowie dem Kommissionspräsidenten ernannt, wobei das Europäische Parlament dem zustimmen muss.
Letzteres verkörpert als einziges Organ die direkte Partizipation der EU-Bürger: Gewählt von der Bevölkerung der Mitgliedsländer können die Abgeordneten an der Gesetzgebung mitwirken, für einen Gesetzesbeschluss bedarf es ihrer Zustimmung – der Wille des Volkes scheint somit vertreten. Doch ist das Parlament in seinen Kompetenzen eingeschränkt: die Europäische Kommission verfügt über das alleinige Initiativrecht für Gesetze, es ist diesem Organ- und eben nicht dem Europäischen Parlament – vorenthalten, Gesetze zu entwerfen bzw. vorzuschlagen. Die Europäische Kommission erhält somit ein stärkeres Gewicht, wodurch der Eindruck entsteht, als bleibe dem EU-Bürger in Bezug auf die Legislatur die Beteiligung verwehrt, manche Gesetze brauchen nicht einmal die Zustimmung des Europäischen Parlaments.
Hier könnte jedoch ein vom Parlament gewünschter Kommissionspräsident für einen gewissen Ausgleich sorgen, denn er würde das direkte Element in der Kommission repräsentieren. Und tatsächlich, seit 2014 existiert das „Spitzenkandidaten-Verfahren“, welches Jean-Claude Juncker den Vorsitz in der Europäischen Kommission ermöglicht hat. Jede Fraktion stellt ihren Spitzenkandidaten auf, der Europäische Rat soll denjenigen mit der stärksten Parlamentsfraktion vorschlagen.
Dieses Verfahren wurde in diesem Jahr jedoch nicht durchgesetzt. Vorgeschrieben ist allein, dass der Europäische Rat, „unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses zum Europäischen Parlament“ mit qualifizierter Mehrheit  einen Kandidaten vorschlägt. Man sei nicht an die Vorauswahl der Spitzenkandidaten gebunden.
Und so setzt sich also eine deutsche Ministerin, welche nicht einmal zur Wahl stand, erfolgreich gegen Kandidaten wie Manfred Weber – Spitzenkandidat der EVP – durch.
Das Europäische Parlament lehnt diesen Vorschlag entweder ab oder stimmt mit qualifizierter Mehrheit zu. Das unterschiedliche Kräfteverhältnis in beiden Verfahren wird augenscheinlich. Die Demontage des Spitzenkandidatensystems bringt verheerende Folgen mit sich: Die Wahl der Bürger scheint keinerlei Auswirkung auf die Wahl des Kommissionspräsidenten zu haben, wenn es doch die Staats- und Regierungschefs sind, welche den Kandidaten festlegen.
Durch die geringfügige Beteiligung des Europäischen Parlaments direkt auf ein Demokratiedefizit zu schließen, ist jedoch falsch. Denn auch Staats-/Regierungschefs werden demokratisch gewählt: somit sind sie genauso legitimiert wie das Parlament, auch sie haben das Vorschlagsrecht. Dies können sie natürlich wahrnehmen. Inwieweit der Einfluss auf die Wahl genutzt und sogar ausgenutzt wird bleibt aber offen. Macron hat seine Abneigung Webers gegenüber nicht verschleiert, er habe ihm zu wenig Regierungserfahrung. Auch Frans Timmermans, Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, kann sich gegen den Widerstand der osteuropäischen Länder scheinbar nicht durchsetzen, nachdem er Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn eingeleitet hat.7 Ursula von der Leyen erscheint als Kompromisskandidatin:
Unterstützend zu ihrem Image als „Europapolitikerin“ wirken beispielsweise ihre persönlichen Beziehungen zu Macron, welchem sie in dessen Projekt einer europäischen Armee Rückendeckung leistet. Selbst der ungarische Ministerpräsident Victor Órban duldet die Kandidatin.
Einziger Gegner ist der Koalitionspartner SPD: „Von der Leyen ist bei uns die schwächste Ministerin. Das reicht offenbar, um Kommissionschefin zu werden“, meint Martin Schulz.8
Meines Erachtens offenbart dies viel stärker das mutmaßliche Demokratiedefizit: Der Vorwurf, die EU sei intransparent, betreibe Hinterzimmerpolitik, wird in die Tat umgesetzt.
Ska Keller, Co-Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament bringt es auf den Punkt :„Diese Hinterzimmer-Lösung nach Tagen der Verhandlungen ist grotesk“.9 Die Glaubwürdigkeit der EU ist tatsächlich angetastet: Wer bei der Europawahl wählt, denkt er trägt durch seine Stimme, welche er beispielsweise der SPD gibt, dazu bei, dass Timmermans Kommissionspräsident werden könnte. Dass das Spitzenkandidatensystem ad absurdum geführt wird und eine Frau, von welcher man im Wahlkampf nichts erfahren hat plötzlich das mächtigste Amt der EU bekleidet, das kann man im Wahllokal nicht erahnen – dass die Staatschefs sich über die Bevölkerung stellen könnten schon gar nicht.
Das Procedere in der EU lässt sich gut mit der Wahl des deutschen Bundeskanzlers vergleichen. Auch hier ist es nicht das Parlament [Bundestag], welcher darüber entscheidet, wer das Amt übernimmt. Der Bundespräsident ist derjenige, welcher den Kanzlerkandidaten vorschlägt. Da er von dieser Person annimmt, dass sie auch gewählt wird, handelt es sich um den Kanzlerkandidaten einer Partei. Dieser Vorschlag muss ebenso mit absoluter Mehrheit des Parlaments legitimiert werden. Angenommen, der Kandidat erhält nicht die entscheidende Mehrheit, tritt die zweite Phase der Wahl ein: Die Fraktionen im Bundestag haben 14 Tage Zeit, um Kandidaten zu nennen und diese zu wählen.
Es fallen zwei bedeutende Unterschiede zur Wahl in Brüssel auf: Einerseits befolgt der Bundespräsident das Spitzenkandidaten-Prinzip wodurch automatisch die Wahl der Bürger integriert wird.
Andererseits hätte das Parlament in der zweiten Phase die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen – wohingegen in der EU ein erneuter Ratsbeschluss stattfindet, und das EP den neuen Kandidaten erneut nur akzeptieren – oder ablehnen kann. Dies erklärt, wieso die Forderung nach der Herstellung einer Verbindung zwischen der Wahl des Kommissionspräsidenten und dem Ausgang der Europawahl immer lauter wird. Wenn Manfred Weber davon spricht, dass „Schaden verursacht [wird] an der Idee eines demokratischen Europas, eines immer mehr auf Demokratie basierenden Europas“10 dann trifft er den Kern der Sache. Die Wahl ist präjudiziert. Natürlich lässt sich einwenden, dass der Kandidat nur ins Amt kommt, wenn das Parlament zustimmt – aber allein dass das Parlament sich auf ja und nein beschränken muss, spricht gegen deren Entfaltung.
Es wird eingeworfen, dass die EU kein Staat sei, man dürfe keine nationalstaatlichen Anforderungen stellen.11 Es ist durchaus schwer, dem Parlament die gleichen Rechte wie beispielsweise dem Bundestag zuzugestehen, doch lässt sich das eher auf die Nationalstaaten zurückführen, welche dem Parlament Entscheidungen verwehren, aus Angst, selbst dafür Macht einbüßen zu müssen.
Ist es wirklich zu viel verlangt, mehr als Demokratietheorie zu fordern? Wie kann es sein, dass die Nachfolgerin eines Demokraten wie Junckers eine umstrittene Politikerin wird? Über die dubiosen Beraterverträge, welche diese in ihrer Zeit als Bundesverteidigungsministerin abgeschlossen hat, scheint man hinwegzusehen: mit ihrem Konzept basierend auf Intransparenz trifft sie in den Strukturen der EU scheinbar auf fruchtbaren Boden.
In Zeiten, in denen die EU an Bindekraft verliert, empfinde ich Ursula von der Leyen als „Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. Wie fühlt sich ein Bürger, welcher sich mit der Abgabe seiner Stimme eine Veränderung erhofft, wenn dies sich nur auf das Europäische Parlament beschränkt, welches nicht einmal ein Initiativrecht inne hat? Wie fühlt er sich, wenn er nicht an den Entscheidungen teilhaben kann, sondern diese hinter hermetisch geschlossenen Türen geschehen?
Wenn die EU ihrem Bild treu bleiben will, dann sollte sie anfangen, sich auch praktisch auf Demokratie zu berufen. Eine Kandidatin, welche nicht „selbstständig“ gewählt werden kann und außerdem ein anderes Verständnis von Demokratie zu haben scheint, sollte solch einen Posten nicht ermöglicht werden. Das könnte ein Anfang sein.
Abschließend lässt sich sagen, dass von der Leyen allegorisch das Defizit der Europäischen Union präsentiert, in der Staats- und Regierungschefs – auch wenn diese sich auf eine Legitimierung berufen können – mehr Einfluss haben als klare Wahlergebnisse. Durch das Ausbauen der Macht des Parlaments – ein Anfang wäre die Orientierung an der Wahl des Bundeskanzlers – könnte man meines Erachtens die eigene Glaubwürdigkeit wieder in ein rechtes Licht setzen, denn die Wahl von der Leyens ist bereits geschehen. Länderübergreifende Kandidatenlisten wären ein weiterer Schritt, welcher die Machtansprüche des Europäischen Rates relativieren – und dem Parlament den Charakter eines nationalstaatlichen Parlamentes verleihen könnten. Das ein System wie in den USA, wo die Bevölkerung im Grunde ihren Präsidenten selbst wählt, sich in der EU jemals durchsetzen könnte, wage ich zu bezweifeln. Dafür ist man noch zu verhaftet in Intransparenz und Autonomie der Mitgliedsstaaten. Enttäuscht bin ich vom Parlament, welches ein Zeichen für mehr direkte Demokratie hätte setzen können, indem es von der Leyen mit „qualifizierter Mehrheit“ ablehnt.
Jegliche Veränderung hin zu mehr Demokratiepraxis würde insbesondere die jungen Wähler, welche sich mehr Innovation und Beteiligung wünschen, zufriedenstellen.

Klartext-Autorin Teresa D. (13.Jgs.) hat diesen Essay als Hausarbeit in Sozialkunde angefertigt. Weiterführende Informationen über die Wahl von der Leyens zur Kommissionspräsidentin findet ihr hier und hier.

 

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