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„Nie wieder“ – 80 Jahre Befreiung und was wir daraus (nicht) gelernt haben

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst. (Wikimedia Commons)

Heute vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Deutschland kapitulierte bedingungslos und der in Ruinen übersäte NS-Staat wurde durch die Alliierten befreit. Der Tag markiert das Ende des nationalsozialistischen Terrors, das Ende von sechs Jahren Krieg, das Ende von Gaskammern, Konzentrationslagern, Massenmord. Der 8. Mai war die Befreiung – für Europa, für die Welt, und auch für Deutschland. Heute, 80 Jahre später, stellt sich die Frage: (Was) Haben wir daraus gelernt?

Ein Blick zurück – und was daraus folgen sollte

Am 1. September 1939 marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Es war der Beginn eines Krieges, der Europa und weite Teile der Welt in Flammen setzte. Das Deutsche Reich führte einen Vernichtungskrieg: gegen Staaten, gegen Zivilisten, gegen ganze Bevölkerungsgruppen. Es ging nicht nur um Gebietsgewinne – es ging um Ideologie. Um Rassenwahn. Um die Auslöschung von allem, was als „anders“ galt.

Die nationalsozialistische Diktatur unter Adolf Hitler errichtete ein System der Angst und Gewalt. Jüdische Familien wurden entrechtet, vertrieben, deportiert, ermordet. Millionen starben in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz, Treblinka, Sobibor. Auch Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner, Menschen mit Behinderungen wurden Opfer dieser „Endlösung“. Die Shoah – der industrielle Massenmord an den europäischen Juden – ist ein Zivilisationsbruch, den die Menschheit bis heute nicht vollständig begreifen kann, gerade weil der Gedanke des industriellen Mordes fernab gesunden Menschenverstands scheint.

Gleichzeitig führte Nazi-Deutschland einen brutalen Krieg in ganz Europa: Luftangriffe auf Großstädte, Massaker an Zivilisten, die Zerstörung ganzer Landstriche. Länder wie Frankreich, Norwegen, die Niederlande oder Griechenland wurden besetzt, ausgebeutet, ihre Bevölkerung unterdrückt. Im Osten war der Krieg besonders grausam: In Polen, Belarus und der Sowjetunion tobte ein rassistisch motivierter Vernichtungskrieg gegen „slawische Untermenschen“, Partisanen, Juden. Die Alliierten – insbesondere die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und die Résistance in den besetzten Ländern – trugen schließlich zur militärischen Niederlage Deutschlands bei.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht. In vielen Teilen Europas bedeutete dieser Tag: Befreiung vom Faschismus, vom Krieg, vom Terror. Auch wenn es Jahrzehnte dauerte, bis sich dieses Wort „Befreiung“ in Deutschland durchsetzte. Denn für viele Deutsche war der 8. Mai lange Zeit kein Tag der Freude, sondern einer des Verlusts, der Niederlage, der „Schmach“. Dass es eine Befreiung auch für Deutschland war – von einem mörderischen Regime, das nicht nur die Welt, sondern auch das eigene Volk missbrauchte – wurde erst spät anerkannt. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte es 1985 in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag im Bundestag: Der 8. Mai war kein Tag der Niederlage – er war der Tag der Befreiung.

Die Lehren daraus? „Nie wieder Krieg“, „Nie wieder Faschismus“, „Nie wieder Auschwitz“. Das war das Credo der Nachkriegszeit, getragen von einem tiefen Bewusstsein der Schuld und Verantwortung. Deutschland schwor sich: Wir wollen nie wieder Täter sein. Und viele Jahrzehnte lang schien es, als würde dieses Versprechen gehalten. Doch „Nie wieder“ ist keine Garantie. Es ist eine tägliche Entscheidung und Aufgabe.

Deutschland nach dem Krieg und der lange Weg zur Demokratie

Die Nachkriegszeit war nicht nur Befreiung. Sie war auch Chaos, Hunger, Kälte und Trümmer. Millionen Menschen irrten durch ein zerstörtes Land. Städte lagen in Ruinen, Familien waren auseinandergerissen, der Glaube an Werte, an Zukunft, an das eigene Menschsein – zutiefst erschüttert. Deutschland war 1945 kein einheitlicher Staat mehr, sondern ein besetztes Land, aufgeteilt in vier Zonen – verwaltet von den Siegermächten: USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion.

Aus dieser Teilung gingen zwei deutsche Staaten hervor, die gegensätzlicher kaum hätten sein können: Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen – parlamentarisch-demokratisch, marktwirtschaftlich geprägt, eng verbunden mit dem Westen, wirtschaftlich aufgerappelt durch den Marshall-Plan der Amerikaner. Und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Osten – ein sozialistischer Staat unter sowjetischem Einfluss, mit zentralistischer Machtstruktur und eingeschränkter Meinungsfreiheit.

In der BRD wurde das politische System unter amerikanischem Einfluss neu aufgebaut. Die „Mutter und Väter des Grundgesetzes“ entwarfen eine Verfassung, die Lehren aus der Weimarer Republik und dem NS-Staat zog: mit klarer Gewaltenteilung, föderaler Struktur, einem starken Parlament und umfassendem Grundrechtsschutz. Die Bundesrepublik war von Anfang an ein demokratisches Projekt mit eingebauter Selbstkontrolle – aber auch eines, das viele Altlasten mit sich trug.

Denn in Verwaltung, Justiz, Polizei und Wirtschaft blieben viele ehemalige NSDAP-Mitglieder zunächst unbehelligt im Amt. Die sogenannte „Entnazifizierung“ verlief oft oberflächlich. Nazis wurden zu Mitläufern erklärt, Täter zu Opfern umgedeutet, Persilscheine wurden massenahaft ausgestellt. Die Gesellschaft war lange nicht bereit, sich selbst als verantwortlich zu sehen. Die ersten Jahrzehnte waren geprägt von Schweigen, Verdrängung, von wirtschaftlichem Wiederaufbau ohne historische Aufarbeitung.

Ganz anders die DDR: Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR behauptete, die Schuld für den Faschismus liege allein bei Kapitalismus und Westdeutschland. Die DDR stilisierte sich zur „besseren“ deutschen Alternative – befreit vom Faschismus, angeblich immun dagegen. Dabei war diese Haltung oft eine Ausrede, um sich einer echten Auseinandersetzung mit individueller Schuld zu entziehen. Während in der BRD Täter zu häufig davonkamen, wurden in der DDR viele einfache Mitläufer stigmatisiert, verurteilt oder in politische Prozesse gezwungen. Zudem wurde die Diktatur des Proletariats selbst zur neuen Unterdrückung: politische Opposition wurde systematisch verfolgt, die Stasi kontrollierte Leben und Denken.

Trotz aller Unterschiede galt in beiden deutschen Staaten: Eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung brauchte Zeit – und Mut. Erst die sogenannte „68er-Generation“ in der Bundesrepublik stellte die verdrängten Fragen: Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan? Warum habt ihr geschwiegen? In Schulen, Universitäten, Medien begann ein Prozess der Enttabuisierung. Begriffe wie „Vergangenheitsbewältigung“ oder „Aufarbeitung“ wurden zu prägenden Vokabeln der westdeutschen Erinnerungskultur.

In den 1980er Jahren entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Land, das seine Vergangenheit offen thematisierte: mit Gedenkstätten, Mahnmalen, Schulprojekten, öffentlichen Debatten. Das Jüdische Museum in Berlin, die Topographie des Terrors, die KZ-Gedenkstätten in Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen – sie alle sind sichtbare Zeichen eines Staates, der lernen wollte, mit seiner Schuld umzugehen.

Und die DDR? Auch dort gab es Mahnmale, etwa in Buchenwald oder Sachsenhausen – aber sie standen oft im Dienst einer staatlich gelenkten Geschichtspolitik. Die Erinnerung wurde politisch instrumentalisiert, antifaschistische Helden verehrt, jüdische Opfer dagegen oft marginalisiert. Die Shoah war in der DDR nie wirklich Thema. Erst nach der friedlichen Revolution 1989 kam es zu einer Annäherung an die westdeutsche Erinnerungskultur – auch wenn viele ostdeutsche Biografien bis heute anders geprägt sind.

Nach der Wiedervereinigung 1990 wuchs zusammen, was historisch verschieden gewachsen war, auch in der Erinnerung. Das führte zu Spannungen, Missverständnissen, neuen Brüchen. Und bis heute ist die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, mit Diktaturerfahrung, mit Schuld und Verantwortung in Ost- und Westdeutschland oft unterschiedlich verankert.

Was sich dennoch sagen lässt: Deutschland ist ein Land geworden, das sich – mehr als viele andere – mit seiner eigenen dunklen Geschichte beschäftigt hat. Ein Land, in dem Gedenktage nicht nur Pflichtübungen sind, sondern Teil einer kollektiven Identität. Ein Land, in dem Stolpersteine an Opfer erinnern, in dem Schüler KZs besuchen, in dem Präsidenten sich vor Überlebenden verneigen. Diese Erinnerungskultur war ein Fortschritt – ein zivilisatorischer Gewinn. Aber sie war nie selbstverständlich. Und sie ist heute brüchiger denn je.

Und wieder brennt die Welt

Während wir am 8. Mai der Befreiung gedenken, erleben wir erneut eine Welt, in der Krieg und autoritäre Tendenzen den Alltag prägen. In der Ukraine tobt seit über drei Jahren ein russischer Angriffskrieg. Städte wie Mariupol oder Charkiw erinnern an die Zerstörung von Warschau oder Leningrad im Zweiten Weltkrieg. Bomben, Gräueltaten, Flucht – und erneut die Frage: Wie reagiert Europa?

Gleichzeitig eskaliert der Nahostkonflikt mit einer Härte, die Erinnerungen an frühere Katastrophen weckt. Nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 reagierte die israelische Regierung mit einer Offensive, die tausende Zivilisten in Gaza das Leben kostete. Die Debatte um Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Völkerrecht ist hoch emotional – und zeigt: „Nie wieder“ ist längst nicht universell gedacht.

Auch in Indien und Pakistan flammen die Spannungen um Kaschmir erneut auf. Terroranschläge in Indien, religiöser Extremismus und militärische Drohgebärden lassen alte Konflikte zu neuer Explosivität reifen.

In Deutschland wurde Friedrich Merz vorgestern nach einem gescheiterten ersten Versuch im zweiten Wahlgang zum neuen Bundeskanzler gewählt. Die erste Niederlage hinterlässt Spuren, denn laut einer Insa-Umfrage glauben 51 % der Deutschen, dass die AfD von Merz‘ Wahldebakel profitiert. Die Gründe für die fehlende Zustimmung beim ersten Wahlgang sieht die Bevölkerung sowohl in der Union als auch in der SPD.

International steht Deutschland vor der Herausforderung, sich in einer zunehmend instabilen Welt zu positionieren. Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus nach seinem Wahlsieg 2024 hat die transatlantischen Beziehungen verändert. Trump gewann die Präsidentschaftswahl mit 312 Wahlmännerstimmen und überlag damit seine Konkurrentin Kamala Harris (Demokraten), welche nur 226 Wahlmännerstimmen bekam.

Diese Entwicklungen zeigen, dass die Prinzipien von Demokratie, Menschenrechten und internationaler Zusammenarbeit nicht selbstverständlich sind. Der 8. Mai erinnert uns daran, dass Freiheit und Frieden stets verteidigt werden müssen, nicht nur in Gedenkreden, sondern durch aktives Handeln und klare Haltung.

Und bei uns? Erinnerung wird zur Pose

In Deutschland erleben wir einen beunruhigenden Trend: Während Gedenktage wie der 8. Mai offiziell begangen werden, ist der gesellschaftliche Konsens über ihre Bedeutung brüchig geworden. Die AfD sitzt in Landtagen und Bundestag, propagiert einen „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur, möchte die Schuld beenden und träumt laut von einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Und viele nicken. Viele schweigen.

Auf Social Media tobt ein Kulturkampf, das zeigte uns zuletzt verstärkt die vergangene Bundestagswahl. Rechte Influencer verharmlosen den Nationalsozialismus oder diffamieren die Befreiung vom Faschismus als „Besatzung“. Linke Stimmen streiten sich untereinander über Identitätspolitik, Antisemitismusdefinitionen und Palästinaflaggen. In den Schulen wissen viele Schüler mehr über TikTok-Trends als über die Wannseekonferenz. Und wenn in Berlin eine jüdische Schule Wachpersonal benötigt oder eine Holocaust-Gedenkstätte beschmiert wird, ist das oft nur eine Randnotiz.

Erinnerung wird zunehmend zur Pose: Wir legen Kränze, posten Zitate, machen „#NeverAgain“-Stories – und lassen gleichzeitig zu, dass sich Gewalt, Nationalismus und Menschenverachtung erneut ausbreiten. Nicht nur woanders, sondern auch hier.

Der 8. Mai ist auch 80 Jahre danach kein Abschluss – sondern ein Auftrag der weiter währt

Was wäre heute, 2025, ein angemessener Umgang mit dem 8. Mai? Vielleicht braucht es weniger Sonntagsreden und mehr Zivilcourage. Weniger ritualisiertes Gedenken und mehr gelebte Verantwortung. Der 8. Mai ist kein Feiertag – er ist ein Mahntag. Denn Befreiung ist kein Zustand, den man einmal erreicht und dann für immer behält. Befreiung ist ein Prozess, der verteidigt, erinnert, neu gedacht werden muss. Das gilt politisch, historisch und ganz konkret.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, sich klar gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit zu stellen – egal, ob sie von rechts, links oder aus der Mitte kommt.
Es bedeutet, die Ukraine, sei es militärisch oder diplomatisch, zu unterstützen – nicht aus geopolitischem Kalkül, sondern aus moralischer Pflicht.
Es bedeutet, Antisemitismus in allen Formen zu benennen – ohne dabei andere Opfer unsichtbar zu machen.
Es bedeutet, Geflüchteten Schutz zu gewähren – auch wenn es unbequem sein mag.
Und es bedeutet, sich als junge Generation nicht einreden zu lassen, Geschichte sei vorbei, man müsse eine Schuld niederlegen.

Ein unbequemes Erbe, aber umso notwendiger

Der 8. Mai ist unbequem, wenn wir ihn ernst nehmen. Denn er erinnert uns nicht nur daran, dass Deutschland befreit wurde – sondern auch, wovon: Von einer Ideologie, die Menschen in „wertvoll“ und „unwert“ teilte. Von einem Staat, der aus Hass Politik machte. Von einer Gesellschaft, die wegschaute, mitmachte, mordete.

Diese genannte Ideologie ist nicht tot. Ganz im Gegenteil: Sie lebt weiter, sie wächst – in Chatgruppen, in Kommentaren, in Wahlergebnissen. Wer heute meint, das sei übertrieben, sollte sich erinnern: Auch 1933 glaubten viele, dass die Demokratie stabil sei. Und selbst als Hitler längst „Führer“ war, fühlten sich viele noch sicher. Der Terror kam nicht mit Blitz und Donner, sondern mit schleichender Gewöhnung. Konzentrationslager existierten, lange bevor viele sie zur Kenntnis nahmen. Verfolgung wurde zur Routine, Ausgrenzung zum Alltag. Man sah weg – und irgendwann sah man gar nichts mehr.

Es kann also durchaus zu spät sein, bevor wir überhaupt merken, dass es zu spät ist.

Der 8. Mai 1945 war ein Neuanfang. Aber jeder Neuanfang braucht Pflege und Mut. Und manchmal eben auch Widerstand. Wenn wir also heute Blumen niederlegen, sollten wir uns fragen: Was würden wir tun – nicht 1945, sondern jetzt? Vielleicht beginnt echte Erinnerung nicht mit einem Kranz, sondern mit der Frage:

„Was tust du, damit es nicht wieder passiert?“, denn Nie wieder ist jetzt.

Ruben Wagner (12. Jgs.)

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