Schulleben

Im Sommer singen die Zikaden (Teil II)

Was Shigeru bisher erlebte, konntet ihr letzte Woche hier lesen. Nun geht es weiter mit dem zweiten Teil der Geschichte. Viel Vergnügen!

Am späten Nachmittag war mein Ärger wieder verflogen, dafür aber die Hitze und die Langeweile nicht. Die Decke anstarrend saß ich im Esszimmer, als plötzlich Opa eintrat. „Hast du nichts als Beschäftigung?“ „Ne“, entgegnete ich gähnend. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, huschte er kurz raus und kam dann mit einem leeren Papier und einem Stift wieder. „Und was soll ich jetzt damit?“, fragte ich.

Ein Haiku verfassen.“ „Was?“ „Weißt du denn, wie man eines schreibt?“ „Schon, aber-“ „Na, fein. Lass dir ruhig Zeit“, war das Letzte, was er sagte, ehe er wieder verschwand. Ich hatte ab dem Zeitpunkt wirklich das Gefühl, der Alte wollte mich für dumm verkaufen. Vielleicht hätte ich einfach meine Gedichte nicht so offen liegenlassen sollen. Wie müde ich mich doch fühlte, und wie laut die Zikaden mal wieder waren.Da schoss mir ein Gedankenblitz durch den Kopf, den ich nicht mehr ignorieren konnte. Ich nahm den Stift zur Hand:

Im halbdurchlässigen Licht
sitzend,
den Zikaden lauschend.

Opa, was schreibst du denn da?“ „Ich? Ach, das ist ein Gedicht“, erklärte er freundlich. „Genauer gesagt ein Haiku.“ „Kann ich das auch mal probieren?“ „Natürlich“, erwiderte er lachend und tätschelte meinem Jüngeren Ich den Kopf.

Mama, schau mal!“ „O, was hast du denn so Schönes geschrieben? Ein Gedicht?“ Interessiert las sie es leise. Als sie fertig war, lobte sie mich: „Das ist so schön, gut gemacht, mein Schatz!“ Nachdem ich von der Schule kam, hörte ich laute streitende Stimmen. Papa und Mama schon wieder. Zersplittertes Glas. Ich war so voller Angst, dass ich zitternd im Flur stand und mich mehrere Minuten nicht mehr bewegen konnte. Hey, siehst du diesen Typen da?“ „Prügelt der sich nicht ständig mit anderen? Der hat auch echt ’nen bösen Blick.“ „In der Grundschule soll er immer allein gehockt und Gedichte geschrieben haben!“ „Ne, glaub ich nicht!“ „He,hört ihr mal mit diesem Geflüster auf?!“, schrie ich verärgert.S-Sorry“, entschuldigte sich einer von denen. Danach ging ich unbehelligt weiter.„Shigeru“, rief Mutter, „was soll nur aus dir werden?“ Sie hielt meinen Test von letzter Woche hoch, der nicht gerade rosig aussah. „Du solltest mal anfangen, dich mehr anzustrengen, es geht immerhin um deine Zukunft.“ „Ach, jetzt auf einmal interessierst du dich für mich?“, gab ich bissig zurück. „Sonst gar nicht. Nur, wenn ’ne schlechte Nachricht ansteht, oder?“ Genervt ging ich in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. „Shigeru…“

Nach kurzer Zeit wachte ich wieder auf. Die Atmosphäre hatte mich wohl schläfrig gemacht. „Gut geschlafen?“, fragte Opa, der plötzlich gegenüber von mir saß, weswegen ich erschrak. „Es überrascht mich, dass du dein Haiku so neutral gehalten hast“, meinte er mit dem Papier in der Hand. „Nimmst wohl gern ungefragt Sachen anderer, huh?“ Laut lachend fuhr er dann fort: „Ich hätte damit gerechnet, du würdest mehr Emotionen reinbringen.“ „So funktioniert doch ein Haiku nicht“, widersprach ich entschieden. „Womöglich, doch bei Kunst soll man sich nicht davor scheuen, mal ab und zu die Regeln zu brechen.“ „Aha“, gab ich lustlos von mir. „Magst du mir vielleicht den Rest deiner Gedichte zeigen?“ „Hä?!“ „Ich dachte, du hättest sie mitgenommen, um sie deinem alten Großvater mal zu zeigen.“ Schon wieder siegte mein Gewissen und ich holte sie rasch her. Wie er sie mit einem seichten Lächeln las, machte mich zugegeben nervös. „Wir vergaßen unsere Namen auf der Straße, der Schnee fiel und versteckte sie“, sagte er eine Stelle plötzlich laut auf, was mich peinlich berührte. „Du bist wohl ein Liebhaber von Metaphern“, merkte er an. Nachdem der alte Herr fertig war, meinte er zufrieden: „Du besitzt wirklich Talent.“ Schweigen trat ein. „Nimm deiner Mutter das nicht so übel“, sprach er auf einmal. „Ich weiß, sie hat manchmal Probleme mit deinem Vater, aber-“ „Darum geht’s mir auch nicht“, unterbrach ich ihn. „Die Frau mutet mir gar nichts zu, hält mich sicher für einen dummen Sohn, der nichts auf die Reihe kriegt. Das weiß ich doch selbst. Das braucht sie mir nicht ständig unter die Nase zu reiben.“ Hast du denn einen Zukunftswunsch vor Augen?“, fragte Opa mich. „Nein, hab keinen Plan.“ „Das ist schon nicht so schlimm“, versicherte er mir und blickte nach draußen. „Lass dir ruhig alle Zeit der Welt, um deine Antwort zu finden. Es gibt auch Menschen, die brauchen ihr ganzes Leben lang, um sie zu finden.“ „Aber-“ „Du erinnerst mich sehr an mich, als ich jung war“, funkte er dazwischen. „Respektlos, unverantwortlich, und immer auf Ärger aus.“ Dieser alte-!, wollte ich gerade gedanklich fluchen, als dann Opa fortfuhr: „Das erinnert mich daran, als ich deine Oma kennenlernte. Ich hatte mich bei einer Prügelei verletzt, als sie dann zufällig vorbeikam und mich pflegte. Nach ihrem frühen Tod fing ich dann an, zu malen und Haikus zu verfassen, um meine Ruhe zu finden.“ Er lächelte mich an. „So ähnlich geht es dir sicher auch, oder? Die Lyrik hat etwas Beruhigendes.“ Dazu schwieg ich nachdenklich. „Ach, lass uns das ernste Thema beiseiteschieben. Lass uns stattdessen einen kleinen Spaziergang im Garten machen.“ „In Ordnung“, erklärte ich mich erstaunlich schnell dazu bereit. „Hey, du lächelst ja“, stellte er überglücklich fest.

Am folgenden Tag musste ich wieder nach Hause reisen. Ein frischer Wind wehte, der die Hitze ausgleichte. „Grüß deine Eltern von mir“, bat mich Opa darum. „Ich würde euch gerneselbst besuchen, wenn meine Verfassung es zuließe.“ „Passen Sie gut auf sich auf“, bat Sayaka darum und verbeugte sich höflich. „Ich glaub, der Besuch hier hat mir schon gut getan“, gab ich ehrlich zu, auch wenn dies nicht so meine Art war. „So gut, dass du endlich mal was gegen deine Haare unternimmst?“, fragte Opa scherzhaft und fügte dann hinzu: „Nur Spaß.“ Der Alte weiß echt, wie er mich auf die Palme bringen kann, dachte ich, doch musste ich selbst ein wenig lachen. Ich konnte es kaum fassen, wie ein zweitägiger Be- such mich so verändern konnte. „Dann geh ich mal langsam.“ „Auf Wiedersehen“, sagten die beiden zu mir. Aber bevor ich mich aufmachte, drehte ich mich noch ein letztes Mal um und fragte: „Darf ich denn irgendwann wiederkommen?“ „Du musst doch nicht extra fragen“, antwortete Opa. „Du bist hier jederzeit herzlich willkommen. Familie ist doch etwas so Wichtiges.“ Er winkte mir nach, ich winkte ihm nach. Dieses Bild von ihm, so gebrechlich, und dennoch stets lächelnd, brannte sich tief in mein Gedächtnis ein. Denn das war das letzte Mal, dass ich ihn jemals sah.

Nun stehe ich wieder vor seinem Haus. Nach seinem Tod vor drei Jahren wurde dieses offiziell seinem Testament nach meiner Mutter vermacht, die es wiederum mir nach meinem Schulabschluss übergab mit den Worten: „Opa hätte es sicher auch gewollt.“ Während sie das sagte, hatte sie Tränen in den Augen. Ich betrete das leerstehende Haus. „Iroha“, das Gedicht über die Vergänglichkeit, hängt noch immer da an seinem Platz. Zwar stehen noch die Möbel da, doch sind sie von einer dicken Staubschicht bedeckt. Als ich mich in Opas altem Zimmer

vorfinde, bemerke ich, dass auf seinem Tisch ein Zettel liegt mit den Worten:

Der seichte Wind
und zirpende Zikaden,
ein warmer Sommertag.

Nun fielen mir diese nervigen lauten Viecher auch wieder auf. Ich muss lachen und doch weinen zugleich. Zwar hab ich den alten Herrn noch nicht mal lange gekannt, aber dennoch wünsche ich mir, er wäre noch am Leben und würde mir zum tausendsten Mal seinen bescheuerten Garten zeigen und mich volllabern. Zügig hole ich meinen Kulli raus, den ich bei mir habe. „Bei Kunst soll man sich nicht davor scheuen, mal ab und zu die Regeln zu brechen“, waren seine Worte, deshalb schreibe ich auch:

Steig auf,
o, Seele der Zikade,
in dein nächstes Leben hinein!

Zwar klingt es ein wenig bescheuert aus meiner Sicht, doch ich bin trotzdem mehr als zufrieden. damit. Ich lege den Zettel wieder zurück und mache mich auf, das Haus noch einmal neu zu erkunden. Die Zikaden trällern weiterhin ihre Lieder ohne Unterlass; an diesem ereignislosen Sommertag wie jeder andere.

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