Die rheinland-pfälzische Landesregierung veranstaltete dieses Jahr erneut den Schreibwettbewerb »Durchschrift«. Die besten Texte wurden in eine vom Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur RLP herausgegebenen Anthologie aufgenommen, wozu auch folgende Geschichte der Schülerin Nicole S. (13 Jgs.) gehört, die wir euch in zwei Teilen präsentieren. Viel Spaß beim Lesen!
Im Sommer singen die Zikaden
Ich erinnere mich noch genau an den Sommer von vor drei Jahren. Da meine Mutter sich auf eine Geschäftsreise begab, musste ich für zwei Tage zu meinem Großvater, den ich seit etwa zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Mit den Händen in den Hosentaschen stieg ich aus dem Bus. Die restliche Strecke wäre zu Fuß zu bewältigen, und das bei einer derartigen Hitze, die ich anfangs nicht vermutet hatte. Wie lästig.
Mein genervter Gesichtsausdruck sprach wohl Bände, während ich der Straße entlang eines Reisfeldes folgte. Um der Sonne trotzen zu können, zog ich letztendlich meine braune Lederjacke aus. Irgendwie ärgerte mich gerade alles hier. Wie die Hitze in der Ferne fast schon eine Fata Morgana erzeugte, wie meine Umhängetasche beim Laufen ständig gegen mein Bein stieß und dieses penetrante Geräusch im Hintergrund: der Gesang von Zikaden. Deshalb wollte ich mich lieber auf anderes konzentrieren und versuchte, an Opa zu denken. An den alten Herrn konnte ich mich zu der Zeit kaum noch erinnern. Masao Watanabe war sein Name. Lebte in einem recht abgeschiedenen Dorf. Nur schemenhaft blieb mir sein Aussehen im Kopf. Plötzlich vibrierte mein Handy, was ich bei dem Empfang hier draußen eigentlich nicht erwartet hatte. Als ich dann nachschaute, wer mir denn schrieb, knirschte ich verachtungsvoll mit den Zähnen.
Shigeru, Schatz, wie geht es dir denn so? Bist du schon bei Opa angekommen? Ohne eine Antwort zu geben, steckte ich mein Handy wieder ein. Diese Frau besaß gar nicht das Recht dazu, nach meinem Wohlergehen zu fragen. Was auch immer, ich war jetzt schon fast so gut wie da. Einige traditionelle Noka-Häuser, die nicht gerade neu wirkten, erstreckten sich vor mir. Vor solch einem stand eine Frau, etwa Ende 40, mit einem einfachen Kimono und einem Schirm zum Schutz vor der Sonne. In dem Moment, als sie mich erblickte, sauste sie in kleinen Schritten zu mir und grüßte mich lächelnd: „Guten Tag. Sie müssen wohl Herrn Watanabes Enkel sein?“ Sie verbeugte sich vor mir, woraufhin ich dies verkrampft nachahmte. „Tag“, erwiderte ich. „Ja, der bin ich.“ „Mein Name lautet Sato Sayaka, ich bin die Pflegerin Ihres Großvaters. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Daraufhin liefen wir auf dem schmalen Pfad Richtung Haustür. Als wir den Eingang betraten, bat mich die Pflegerin hastig:„Bitte Schuhe ausziehen.“ Während ich das tat, schaute ich gebannt auf die Schriftrolle, die vorne an der Wand hing. Obwohl ich darauf nicht alles entziffern konnte, stellte ich dennoch fest, dass es sich dabei um das alte Gedicht „Iroha“ handelte. Obgleich die Farben der Blüten duften…
„Mein Herr, Sie sollten sich doch in Ihrem Zimmer ausruhen“, rief Sayaka auf einmal besorgt. Dann bemerkte ich ihn auch; ein alter Mann im lila Kimono stand links da und lächelte mir zu. „Du bist doch Shigeru, nicht wahr?“ Er kam näher und umarmte mich plötzlich. „Meine Güte, bist du groß geworden.“ Während ich erstarrt wie eine Salzsäule stand, schien Sayaka neben uns gerührt von diesem Wiedersehen zu sein und verkniff sich Tränen. „Komm doch in mein Zimmer, wir haben uns so viel zu erzählen“, meinte Opa. Irgendwie seltsam, seine Begeisterung. Und ich hatte ihn gar nicht so klein in Erinnerung.
Der Holzboden im Flur knarzte bei jedem Schritt, bis wir dann schließlich in seinem Zimmer ankamen, welches voll war mit selbstgemalten Bildern vom Fuji. Zitternd führte der alte Mann mich zu einem kleinen Tisch hinten, vor dem zwei blaue Sitzkissen lagen. „Es ist ganz schön lange her“, fing mein Opa an. „Du bist schon mittlerweile 17? Ach, wie die Zeit so schnell vergeht.“ Nachdem er herzlich gelacht hatte, betrachtete er mich. Sicherlich sah ich nicht gerade nach dem Sinnbild eines perfekten Enkels aus; tiefe Augenringe, blondgefärbte verwuschelte Haare, und weil ich keine anderen sauberen Sachen parat hatte, trug ich meine faltige Schuluniform. „Du scheinst wohl keinen großen Wert auf Ordnung zu legen“, kommentierte er lachend. Obwohl ich sowas schon erwartet hatte, stieß mir das dennoch sauer auf. Ziemlich direkt, der Alte, dachte ich mir. „Davor hat mich schon dein Vater gewarnt, aber keine Sorge, mir macht es überhaupt nichts aus“, versicherte er mir und begann dann mit seinen langen Erzählungen, bei denen ich nur halbherzig zuhörte.
Anscheinend mochte der Opa es wohl, um den heißen Brei zu reden. Aber obwohl es ihm sicher schon auffiel, dass ich kaum zuhörte,machte er dennoch weiter und genoss es. Schließlich bemerkte ich auf seinem Tisch ein Haiku, das er wohl erst vor Kurzem verfasst hatte:
Der seichte Wind
und zirpende Zikaden,
ein warmer Sommertag.
Nun fielen mir diese nervigen lauten Viecher auch wieder auf. Irgendwann entschloss der alte Herr sich dazu, mir seinen Garten zu zeigen und ich folgte ihm wortlos dabei. Nach zwei Stunden Langeweile wollte die Pflegerin mir neue Sachen zum Wechseln geben und bat mich deshalb in das Gästezimmer, wo ich übernachten würde. „Hier“, sagte sie und präsentierte einen hellblauen Kimono. „S-Sowas kann ich doch nicht anziehen!“ „Aber wieso denn nicht? Die Farbe würde Ihnen so gut stehen“, antwortete sie enttäuscht. „A-Aber ich…“, gab ich stotternd von mir. Tradition und Kultur hin oder her, so ein Kleidungsstück zu tragen wäre mir viel zu peinlich. Doch irgendwann hörte ich aus Gewissensgründen mit dem Widersetzen auf. Wie ich das hasste. Danach nahm mich Sayaka mit zum Einkaufen, um ihr behilflichsein zu können. Und das in diesem Kimono. „Hey, ist das etwa Masaos Enkel?“, fragte der Verkäufer, der wohl Opas alter Freund war. „Siehst ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitzt aus, Junge!“
Am Abend saßen dann Opa und ich am Tisch und warteten auf das Essen. „Frau Sato macht wirklich die besten Gerichte“, erzählte er mir, und allein schon am köstlichen Duft konnte ich ihm zustimmen. „So, alles ist fertig“, verkündete Sayaka und stellte die Teller hin. Bevor Opa zu essen anfing, legte er die Hände wie in einem Gebet zusammen und sprach: „Guten Appetit.“ „Das ist echt lecker!“, meinte ich gleich nach dem ersten Bissen, woraufhin die Köchin lächelnd sagte: „Danke, das freut mich.“Wir saßen eine Weile schweigend da und aßen, wobei ich das Gericht regelrecht runterschlang. Mir egal, ob das jetzt unhöflich rüberkam. Es schmeckte einfach zu gut. „Weißt du“,setzte der Alte an, „deine Mutter hatte mir per Telefon verraten, Teriyaki sei dein Lieblingsessen. Deshalb hab ich Frau Sato gebeten, es für dich heute zuzubereiten.“ Bei der Erwähnung wurde mir flau im Magen. „Deine Mutter und ich reden oft über dich, Shigeru, weil sie sich immer solche Sorgen um dich macht.“ „Sorgen?“, wiederholte ich und lachte bitter. „Eher vertraut sie ihrem siebzehnjährigen Sohn nicht genug, zwei Tage lang allein auf sich aufzupassen.“ Absichtlich laut stellte ich den Teller wieder auf den Tisch und stand auf. „Mir ist der Appetit vergangen. Trotzdem danke.“ Während ich den Raum verließ, schauten Sayaka und Opa mir besorgt hinterher. Am nächsten Tag, nachdem ich von der Toilette kam, sah ich, wie der Alte in meinem Zimmer Blätter von mir laß. „Warte mal.“ „O, Shigeru.“ „Sind das etwa meine?!“ Wütend riss ich ihm diese aus der Hand. „Verzeihung, sie lagen hier so achtlos rum, als ich reinkam.“ Daraufhin stampfte ich ziemlich sauer aus dem Raum, doch hatte Opa, glaube ich, ein Lächeln auf den Lippen. Wie konnte er es wagen, einfach so meine Gedichte zu lesen?!
Am späten Nachmittag war mein Ärger wieder verflogen, dafür aber die Hitze und die Langeweile nicht. Die Decke anstarrend saß ich im Esszimmer, als plötzlich Opa eintrat. „Hast du nichts als Beschäftigung?“ „Ne“, entgegnete ich gähnend. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, huschte er kurz raus und kam dann mit einem leeren Papier und einem Stift wieder. „Und was soll ich jetzt damit?“, fragte ich.
Weiter geht es nächste Woche!