Ernst-Wilhelm Händlers Gesellschaftsroman „München“ ist das neuste Buch des Schriftstellers nach „Der Überlebende“ (2013). Diesmal mit besonderem Augenmerk auf die Münchner Kunstszene, gewährt Händler Einblick in die Welt der Reichen und Schönen.
Hauptfigur ist Thaddea, die durch das Erbe ihrer Eltern wohlhabend und Besitzerin mehrerer Luxusvillen ist. Sie eröffnet mit Anfang 30 ihre eigene Praxis für Psychotherapie. Allerdings kommt Werbung für sie nicht in Frage, weshalb man nicht gerade von einem Ansturm potenzieller Klienten auf ihre Praxis sprechen kann. Thaddeas fehlende Zehen, amputiert nach einem Unfall im Kindesalter, sind nicht nur beim Tragen von Open-Toe Schuhen ein Problem; ihr Handicap verlangt ständige Körperbeherrschung, um unentdeckt zu bleiben. Die Beziehung des im Kunsthandel tätigen Ben-Lucas und Thaddea scheitert durch Ben-Lucas Techtelmechtel mit Thaddeas bester Freundin Kata. Allerdings scheint die Trennung nicht viel verändert zu haben, denn das Verhältnis der beiden war leidenschaftslos, geradezu gefühlstot. Weil ein Beruf noch nicht genug ist, versucht sich Thaddea zusätzlich an einem Roman, weswegen sie sich bei einem mittelmäßig bekannten Schriftsteller gründlich informiert. Auch wenn dieser an einem Verhältnis mit ihr interessiert wäre, würde Thaddea sich nicht auf den Schriftsteller einlassen, denn sie hält nichts von „Sixty is the new forty“.
Wenn man sich schon mit seinen anderen Romanen befasst hat („Der Überlebende“, „Welt aus Glas“, etc.) weiß man, dass Händlers Schreibstil kühl und distanziert ist. In den Worten Christoph Schröders („Die Zeit“): „Händler, […] hat einen klirrend kühlen, analytischen Tonfall entwickelt.“, „Ernst-Wilhelm Händler ist ein Schriftsteller, der, wie Gottfried Benn es einmal als Maxime formuliert hat, sein Material kalt hält“.
Die Distanziertheit wird beim Lesen deutlich. Zum einen scheint die Hauptfigur Thaddea nicht in der Lage zu sein, Gefühle zu zeigen oder sich ernsthaft für andere Menschen zu interessieren. Und zum anderen ist die gesamte Geschichte zwar aus der Sicht von Thaddea, aber in der Er-Form personal erzählt, wodurch in diesem Fall keine Verbindung zwischen Leser und Hauptfigur entsteht. Meist auf die durch Thaddea geprägte, aber dennoch sachliche Beschreibung von gesellschaftlichen Ereignissen oder Thaddeas Klienten fokussiert, ist die einzige Stelle im Buch, bei der ein Gefühl von Spannung aufkommt, die, in der Thaddea die Flucht über die DDR-Grenze nacherlebt. Aber auch hier ist klar, dass die Szene inszeniert vom Haus der Kunst ist, wodurch ein Großteil der Spannung schwindet.
Ernst-Wilhelm Händler drückt sich meist in gehobenem Deutsch aus, passend zur Münchner Society. Sein Geheimrezept um einen gebildeten Eindruck zu hinterlassen: man nehme französische, englische und am besten noch lateinische Wörter, Zitate oder Redewendungen und packt so viel es geht davon in seinen Text. Die Ereignisse im Buch wechseln zwischen
Thaddea als Therapeutin, Thaddea auf Events der Münchner Society oder Kunstszene und Thaddea in ihrer Gedankenwelt. Zwischendurch zeigt Händler immer mal wieder Rückblicke, was trotzdem keinen Durchblick in Thaddeas verzweigter Gedankenwelt schafft.
Auch wenn eine Interaktion zwischen Thaddea und anderen stattfindet (nie mehr als eine weitere Person), werden Dialoge ständig mit ihren Überlegungen unterbrochen. Sie denkt allerdings kaum über das Verhalten anderer Menschen nach, eher bezieht sie alles, was andere aussprechen, auf sich selbst. Soll sie ihren Roman weiterschreiben? Soll sie Kata und Ben-Luca in ihr Leben lassen? Soll sie sich ein neues Paar Schuhe bestellen?
Die permanente Distanziertheit Thaddeas zu den Menschen, welche sie umgeben, lässt sich vermutlich mit ihrem Roman erklären. Sie schreibt über einen Jungen, der, genau wie die Beziehung zu seinen Eltern, Gefühlskälte ausstrahlt. Er hält sich selbst für eine Maschine aus Fleisch und Blut, der nichts empfindet außer dem schlechten Gewissen darüber, dass er nichts empfindet. Außerdem ist sein Vater, ähnlich wie Thaddeas, vielbeschäftigt und scheinbar auf Erfolg fixiert. Es wird an einigen Stellen klar, dass Thaddea sich in der Hauptfigur ihres Romans widerspiegelt. Unter anderem, als der Schriftsteller sie darauf anspricht.
Die Nebencharaktere im Buch bleiben im Hintergrund. Leser und Kritiker sind der Meinung Händler versage bei seinen Nebenfiguren, die bisweilen als „schlichte Karikaturen“ auftauchen würden („Perlentaucher“) und dass die wenigen Figuren, bis auf die Hauptfigur, eher blass bleiben würden („Die Zeit“).
Die vernachlässigten Nebencharaktere sind Ben-Luca, von dem man nicht weiß, ob er Thaddea um ihretwillen oder nur zur Bequemlichkeit zurückwill, Kata, deren Aussehen und Kleidung in Rückblicken und in der Gegenwart ausführlich diskutiert wird, der Schriftsteller, der offenbar versucht seine Einsamkeit zu lindern, indem er Thaddea immer wieder von seiner Kindheit erzählt, die er schon mehrmals in seinen Romanen dargelegt hat. Nicht zu vergessen Pimpi, der es mag andere Frauen gegen ihren Willen zu küssen, aber attraktiv und interessant genug ist, damit Thaddea mit ihm schlafen will. Und zu guter Letzt Thaddeas Klienten, die meistens wegen ihrer Arbeit in Therapie sind. Entweder scheint Thaddea nicht schlau aus ihnen zu werden, oder sie ist zu sehr damit beschäftigt, über ihre eigenen Probleme nachzudenken.
Die Buchbeschreibung von „München“ schreibt: „Der Schmerz bleibt. Hochsensibel beginnt sie zu erkunden, wo das eigene Ich die Welt berührt.“ Beim Lesen des Buches bekommt man weder einen wirklichen Eindruck von Thaddeas Schmerz, noch ihrer angeblichen Hochsensibilität. Ihre Herangehens- und Denkweise ist, Ben-Luca und Kata zu ignorieren und einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Dennoch ist Thaddea eifersüchtig, dass die beiden noch Kontakt zueinander haben. Ihr Verhalten ähnelt vielmehr dem eines Heranwachsenden, als dem der intellektuellen und gebildeten Frau, die sie nach außen hin vorgibt zu sein. Sie rennt von einem gesellschaftlichen Event zum nächsten, womit Händler wohl Einblick in die Münchner Kunstszene geben will. Dies ist ihm teilweise gelungen, aber Interaktion zwischen den einzelnen Menschen findet kaum statt. Und wenn doch, ist man in Thaddeas Gedanken gefangen und muss ihre Interpretationen über alles und jeden ertragen.
„München“ ist ein durch seine Sprache anspruchsvolles Buch. Es richtet sich an eine sehr eingegrenzte Zielgruppe, in der ich mir unter anderem Akademiker, Literaturfans oder erfolgreiche Selbstständige vorstellen kann, aber die Allgemeinheit wird an diesem Buch keinen Gefallen finden. Die Geschehnisse sind trotz 350 Seiten in gewisser Weise immer dieselben, beim Lesen verspürt man eine permanente Trägheit und am Schluss weiß man nicht wirklich mehr als davor. Zudem wird man in „München“, ausgenommen Thaddea, aus keinem Charakter schlau. Für Menschen mit Abenteuerlust ist das Buch nicht zu empfehlen.
Leonie Hust