Am 04.11.13 besuchte Paul Niedermann, Zeitzeuge und Überlebender des Naziterrors, unsere Schule und hielt einen Vortrag über seine Deportation in das französische Konzentrationslager Gurs.
Das Camp de Gurs in Südfrankreich diente vor dem 2. Weltkrieg als Lager für politische Flüchtlinge und ebenfalls geflohene Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs, die sich gegen Franco zur Wehr gesetzt hatten. Im Zweiten Weltkrieg, während der deutschen Besetzung Nordfrankreichs, wurde es unter dem Vichy-Regime als Internierungslager zur Unterbringung von Strafgefangenen zusammen mit „unerwünschten Personen“ , nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 auch für deportierte jüdische Familien benutzt. Dabei hatte übrigens der damals in der Villenstraße residierende Gauleiter Joseph Bürckel zusammen mit dem badischen Gauleiter Wagner die Pläne dafür ausarbeiten lassen.
Durch seine detaillierten Erzählungen, die von seiner Geburt in Karlsruhe 1927 und Kindheit als Jude im Dritten Reich bis zu seinem heutigen Leben handelten, bekamen wir einen besonderen Eindruck von seinem Schicksal und seinen bewegenden Erlebnissen. Besonders die Anmerkung, dass man seine Vergangenheit kennen muss, um die Gegenwart und Zukunft zu verstehen, hat uns zum Nachdenken angeregt. Er betonte ebenfalls, dass uns die Taten und Grausamkeiten in dieser Zeit nicht zugeschrieben werden könnten, was wir in seiner Position als sehr bemerkenswert empfanden. Nach dem zweistündigen Vortrag hatte die Courage- AG zusammen mit der Schülerzeitung die Möglichkeit, mit Herrn Niedermann ein Interview zu führen, wofür er sich sehr viel Zeit nahm.
Redaktion: Herr Niedermann, in Ihrem Vortrag haben sie ausführlich die Deportation geschildert. Haben sie daran gedacht, jemals wieder ein normales Leben führen zu können?
Herr Niedermann: In dieser Situation hat niemand so weit gedacht. Im Prinzip ging es um das nackte Überleben von Tag zu Tag, wenn nicht sogar kürzer.
Redaktion: In ihrem Vortrag berichteten sie davon, dass sie beziehungsweise ihre ganze Familie binnen 20 Minuten alle relevanten Habseligkeiten hatten zusammenpacken müssen, man sie dann erst einmal in die Nähe des Karlsruher Bahnhofe gebracht habe – zusammen mit vielen anderen Familien. Hatte denn niemand eine Ahnung, wohin man sie bringen würde?
Herr Niedermann: Nein, niemand wusste, wohin die Reise geht; es hatte zwar zuvor Gerüchte gegeben, dass man uns nach Afrika deportieren wollte, aber mehr auch nicht. Um so verwunderter waren wir, als wir dann auch bemerkten, dass der Zug Richtung Westen fuhr. Generell zu unserer Lage: Wenn wir gewusst hätten, dass das, was Hitler in „Mein Kampf“ geschrieben hat, auch tatsächlich das politische Ziel war, dann wären viele von uns sicher schon früher geflohen.
Redaktion: Dabei haben sie uns ja auch das Dilemma geschildert, ausreisen zu wollen, aber keinen Reisepass mehr zu haben; wie sah es denn vor der Deportation in ihrem näheren Umfeld aus: In ihrem Vortrag wurde schon einmal klar, dass die Lehrer sie definitiv schickaniert und eines Tages einfach nach Hause geschickt hätten. Gab es denn auch Anfeindungen seitens der nichtjüdischen Kinder?
Herr Niedermann: Viele Kinder brachen den Kontakt zu uns ab, aber dafür konnten sie ja nichts; einerseits wurden sie zum Judenhass erzogen, andererseits gab es ja auch noch die Eltern, die den Kontakt zwischen uns Kindern unterbanden.
Redaktion: Sie haben u.a. von der Zugfahrt nach ihrer Flucht berichtet, in der sie Hilfe von einer älteren Frau erhielten. Erzählen sie uns davon.
Herr Niedermann: Ich brauchte falsche Papiere. Deshalb fuhr ich mit dem Zug, um diese von OSE-Bekannten abzuholen. Jedoch war die Fahrt ziemlich lange und der Zug wurde von der Gestapo gestoppt, da Widerständler gesucht wurden. Ich stand also auf dem Gang und hatte furchtbare Angst, dass sie erkennen würden, dass ich nicht aus Frankreich kam, aufgrund meiner Sprachkenntnisse und meines deutschen Akzents. Akzentfreies Französisch war ein Muss, auf Leben und Tod! Aufzufliegen wärerlane fatal gewesen. Verstecken konnte ich mich nicht, auch nicht auf der Toilette, da sie diese sofort aufgebrochen hätten. Eine Frau mit vier Kindern, auch ein Baby darunter, sah mich zitternd auf dem Gang stehen und winkte mich in ihr Abteil hinein. Dort übergab sie mir ihr Baby und ich setzte mich. Als die Gestapo dann kam, ahen sie nur eine Frau mit fünf Kindern, die kaum Widerständler hätten sein können und gingen vorbei. Das rettete mir das Leben.
Redaktion: Wieso haben sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Frankreich als ihren Wohnort gewählt?
Herr Niedermann: Ich habe Frankreich ausgewählt, da dort eine strikte Trennung von Religion und Staat herrscht. Dort ist Religion ein Thema, für das jeder selbst verantwortlich ist. Deswegen heißt mein Buch in Frankreich anders als in Deutschland: „Denn auf Hass lässt sich nicht bauen“ könnte meines Erachtens verstanden werden. Mit dem französischen Titel “ Un enfant juif,un homme libre“, was „Ein jüdisches Kind,ein freier Mann“ bedeutet, bin ich auch sehr zufrieden.
Redaktion: Wie haben sie von dem Schicksal der anderen deportierten Juden erfahren?
Herr Niedermann: Mein polnischer Freund kam extra nach Frankreich, um mich über den Mord an den deportierten Juden zu informieren. Er sagte auch, ich solle nicht auf meine Eltern warten, sie seien tot. Danach plagten mich Zweifel an Gott und ich habe großes Unverständnis bis heute. Ermordung wegen einer Religionszugehörigkeit ist für mich nicht nachvollziehbar.
Redaktion: Wie gehen sie heute mit ihren Erlebnissen um?
Herr Niedermann: Ich habe das Problem mit mir selbst geklärt. Ich gebe keine Belehrungen und habe keine Geheimnisse und vor allem hab ich kein Problem damit zu reden. Mein größtes Gebot ist Toleranz und ich habe kein Problem mit anderen Religionen. Auch habe ich keinen Streit mit der Nachkriegsgeneration, denn sie trägt keine Verantwortung für die Vergangenheit. Ich rede, denn ich finde es ist wichtig, dass man keine Scheuklappen trägt.
Redaktion: Sie sind ja des öfteren in Deutschland unterwegs, um auch unsere Generation über diese Thematik zu informieren. Wie reagieren Sie darauf, dass es noch immer in Deutschland Neonazis gibt?
Herr Niedermann: Natürlich wird man da wütend, dass es noch immer so etwas gibt. Im Zeitalter der Demokratie darf man aber dann auch deutliche Worte dafür finden, was ich zu tuen pflege, das dann auch mal gerne mit lauter Stimme.
Redaktion: Herr Niedermann, wir danken Ihnen für den Besuch am Käthe-Kollwitz-Gymnasium, für Ihren interessanten Vortrag und für das Gespräch.
Seine Erinnerungen hat Herr Niedermann – wie oben erwähnt – in einem Buch zusammengetragen: Das Buch „Auf Hass lässt sich nicht bauen: Erinnerungen eines Überlebenden“ umfasst 175 Seiten und erschien bereits 2011 im Info-Verlag (Lindemanns Bibliothek im Info-Verlag, ISBN-13:978-3881906432 ). Es kostet 9,80€.
Das Interview führten Sara P., Michelle H., Kristin E. sowie Melina N. und M. Deck